EM

Im georgischen Grenzbereich

Kolumne "Heimspiel - Mein Tag bei der EM"

Im georgischen Grenzbereich

Applaus bekommen die Georgier nicht nur von den Fans, sondern auch den Journalisten.

Applaus bekommen die Georgier nicht nur von den Fans, sondern auch den Journalisten. IMAGO/Nordphoto

Ich kann kein einziges Wort Georgisch, und dass diese hübsch-abgerundeten Schriftzeichen dem Alphabet "Mchedruli" zuzuordnen sind, muss ich googeln. Daran vermochte auch ein rund zehntägiger Reporter-Aufenthalt bei der letztjährigen U-21-EM so gar nichts ändern.

Obwohl ich den Berichten der georgischen Kollegen also nicht wirklich viel abgewinnen kann, wage ich aktuell trotzdem mal zu behaupten, dass kritische Zwischentöne in den geschriebenen Zeilen über ihre Nationalmannschaft eine absolute Rarität sind. Großartigen Anlass dazu gab es bei der bisherigen EM ja tatsächlich auch kaum.

Applaus, Trikots und Glückwünsche der Reporter

Dem Auftaktmatch gegen die Türkei, ihrem allerersten Auftritt bei einem großen Fußballturnier überhaupt, verliehen die Georgier zunächst höchsten fußballerischen Unterhaltungswert - zumal ein 2:2-Ausgleich in der Nachspielzeit in Dortmund gleich zweimal in der Luft gelegen hatte, bevor sich der Neuling beim Treffer zum 1:3 dann auskontern ließ. Und auch beim 1:1 gegen Tschechien bot sich in einer zwar unterlegen verlaufenen Partie mit der letzten Aktion eine vergleichbar hochkarätige Chance, die fast sogar noch zum späten Sieg geführt hätte. Gefeiert wurden die Protagonisten trotzdem für diesen ersten historischen EM-Punkt - vor der Kurve, natürlich, von den Anhängern. Allerdings auch im Hamburger Pressekonferenzsaal, von den Journalisten.

Als dort der völlig zu Recht zum Spieler des Spiels gewählte Keeper Giorgi Mamardashvili aufs Podium trat, brandete Applaus bei den georgischen Reportern im Raum auf, manche erhoben sich von ihren Plätzen, manche trugen sogar das Trikot ihrer Nationalmannschaft. Ihre Fragen stellten sie erst, nachdem zunächst allerlei Glückwünsche an den Spieler und hernach natürlich auch an Trainer Willy Sagnol überbracht worden waren.

Man kann das einfach mal gut finden

Nur eine Etage tiefer im Volksparkstadion sprachen die georgischen Nationalspieler zugleich nicht nur an den eigens von der UEFA in der Mixed Zone aufgebauten Rednerpults zu den heimischen Journalisten; man sah dort vor dem Mannschaftsbus hier und da auch mal einen herzlichen Austausch im Eins-zu-Eins-Gespräch. Beide Seiten ließen Nähe zu, die selten geworden ist. Das alles waren jedenfalls Szenen, die ich bei den bisherigen Partien in Hamburg zwischen den Niederlanden und Polen sowie Albanien und Kroatien so noch nicht vernommen hatte.

Bilder zur Partie Georgien gegen Tschechien

Man kann das für unprofessionell halten, dass sich diese Kollegen in einem Grenzbereich bewegen, was das Einhalten einer journalistischen Distanz zu den Geschehnissen und gerade den Personen normalerweise gebietet.

Georgisches Gefühl der Gemeinsamkeit

Man kann das in Tagen, wo man sich selbst in Deutschland einer schwarz-rot-geilen Berichterstattung nicht komplett entziehen kann, aber auch einfach mal gut finden: Wie die Georgier auf der Pressetribüne völlig ausflippen, wenn sie sich beim zu erwartenden Führungstreffer vom Elfmeterpunkt mit dem Smartphone selbst filmen. Wie der Reporter neben einem halb unter den Schreibtisch rutscht, wenn die erwähnte Siegchance eben nicht genutzt wird.

Und wie sich dort offenbar eine Form der Einheit gebildet hat zwischen Trainer, Spielern - und Journalisten. Ein Gefühl der Gemeinsamkeit, das man ihnen sicherlich nicht verdenken kann. Gerade, da niemand weiß, wie lange die Georgier auf ihre zweite EM-Teilnahme warten müssen.

Tim Lüddecke

Riesenchance in der Nachspielzeit: Georgien beinahe mit dem historisch ersten EM-Sieg

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