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Ein Hauch von Sommermärchen: Frankfurt pulsiert wie 2006

Kolumne "Heimspiel - Mein Tag bei der EM"

Ein Hauch von Sommermärchen: Frankfurt pulsiert wie 2006

Fußballfans am Frankfurter Römer.

Fußballfans am Frankfurter Römer. IMAGO/IPA Photo

Mist. Ich wache mit Halskratzen und Schüttelfrost auf, kein Wunder bei der Eiseskälte der vergangenen Tage im Taunus. "Die EURO 2024 - ein Novembermärchen", denke ich. Vielleicht sind die körperlichen Symptome aber auch nur die Begleiterscheinungen des Fußballfiebers, das mich durch den Tag begleiten wird. Um 18 Uhr trifft in Frankfurt England auf Dänemark, und meine Vorfreude auf dieses Spiel und das ganze Drumherum könnte seit Wochen kaum größer sein.

Kein anderes Duell lässt meine Erinnerungen an die WM 2006 vor meinem inneren Auge noch einmal so lebendig werden. Ein kleiner Rückblick. Als Student erlebe ich die Weltmeisterschaft in Deutschland als wahres Sommermärchen. Morgens ab und zu im Hörsaal, nachmittags beim Public Viewing in der Main-Arena, wo die Spiele auf einer gigantischen schwimmenden Leinwand übertragen werden. Die Welt zu Gast bei Freunden. Ein unbeschwerter, unvergessener Sommer mit unzähligen Erinnerungen an Feierlichkeiten und Begegnungen mit Fans aus aller Welt.

Die S-Bahn bebt: Engländer und Dänen liefern sich Stimmungs-Duell

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Nur einen Tag nach Deutschlands fulminantem Eröffnungssieg gegen Costa Rica spielt England in Frankfurt gegen Paraguay. Etwa 100.000 Engländer fluten die Stadt - und ich bin mittendrin im Getümmel. An den mühsamen 1:0-Sieg der Engländer, den ich von der Gegentribüne aus verfolge, erinnere ich mich 18 Jahre später nicht mehr. Umso mehr aber an die ausgelassene Stimmung. Schon Stunden vor dem Anpfiff herrscht am Römer bei brütender Hitze Partystimmung pur. Fußbälle fliegen durch die Luft, Fahnen schmücken die historischen Gebäude. Auch das eine oder andere Kaltgetränk rinnt die Kehlen herunter.

Deutschland bei der Heim-EM

Hymne sorgt für Gänsehaut

Später sorgt die englische Nationalhymne für Gänsehaut. Mit welchem Stolz und mit welcher Inbrunst die geschätzt 40.000 Engländer in der Arena ihre Hymne "God Save the Queen" brüllen, ist mehr als beachtlich. Hunderte, vielleicht Tausende Englandfahnen hängen überall im Stadion verteilt.

Auf den roten Georgskreuzen prangen Vereins- und Ortsnahmen, die Fans verstehen sich eben nicht nur als Repräsentanten Englands. Stolz zeigt man der Welt auch, aus welchem fußballverrückten Kaff man kommt. Gefühlt ist jedes englische Dorf vertreten. Später gehen die Feierlichkeiten im Kneipenviertel Sachsenhausen weiter. Das Beste: Die WM ist gerade einmal zwei Tage alt.

"Zombie Zone" nicht ganz so schlimm

Engländer zeigen stolz, aus welchem fußballverrückten Kaff man kommt.

Engländer zeigen stolz, aus welchem fußballverrückten Kaff man kommt. IMAGO/Beautiful Sports

Bei der EURO 2024 bin ich als Reporter im Einsatz, das erste Spiel in Frankfurt zwischen Belgien und der Slowakei ist ein schöner Auftakt. Jetzt bin ich gespannt, ob die Atmosphäre in Frankfurt ähnlich gut sein wird wie 2006. Im Internet kursieren Videos, die zeigen, dass sich Engländer und Dänen in der Frankfurter Innenstadt bereits am Vortag des Spiels warmgefeiert haben.

Um 13:19 Uhr steige ich in Oberursel in die S-Bahn, die Fahrt zum Frankfurter Hauptbahnhof dauert kaum mehr als eine Viertelstunde. Beim Verlassen des Bahnhofsgebäudes das übliche Bild: Alkoholiker taumeln herum, Dealer bieten ihre Ware feil. Englische Boulevardmedien warnen die Fans vor der "Zombie Zone", ganz so schlimm ist es an diesem Tag nicht. Der Irish Pub ein paar Meter weiter ist schon gut gefüllt, die Stimmung ruhig und friedlich.

Zu Fuß geht es weiter zum Römer, der um 14 Uhr proppevoll mit Anhängern der Three Lions ist. Gefühlt ist es hier in der Menschenmasse plötzlich zehn Grad wärmer, für die Gäste von der Insel muss es sich wie Hochsommer anfühlen. Die Ausdünstungen aus Schweiß und Bier sorgen für eine Luftfeuchtigkeit wie in den Gewächshäusern des Frankfurter Palmengartens. Ich schwitze. Noch sind die Engländer etwas maulfaul, nur gelegentlich werden Gesänge angestimmt. Der Fokus gilt dem exzessiven Biergenuss.

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Ein Spaziergang über die 1,4 Kilometer lange Fan Zone am Main, die unterhalb des Römer am Eisernen Steg beginnt, lässt erahnen, dass auch Tausende Anhänger ohne Tickets angereist sind. Viele machen es sich dreieinhalb Stunden vor Spielbeginn im Gras vor einer der zahlreichen Großbildleinwände gemütlich, andere zocken noch ein bisschen auf den kleinen Fußballfeldern, die extra für die EURO aufgebaut wurden. Dänen sehe ich nur vereinzelt, den Fanmarsch vom Opernplatz zum Hauptbahnhof bekomme ich lediglich über die sozialen Netzwerke mit.

Foppen unter Fans

Gegen 15 Uhr bin ich zurück am Römer, wo das Gedränge etwas nachgelassen hat. Viele machen sich so langsam auf dem Weg ins Stadion. Um 15.15 Uhr steige ich an der Hauptwache in die völlig überfüllte S-Bahn-Linie 8 zum Waldstadion. Festhalten muss ich mich nicht, denn man kann nicht umfallen. Ein Wunder, dass es überhaupt noch Reste von Sauerstoff gibt.

Aus Leibeskräften brüllen die Engländer ihre Lieder, kurz darauf drängen noch vollgetankte dänische Fans ins Abteil. Jetzt wird es noch lauter, noch heißer, noch schwitziger. Luftfeuchtigkeit wie in den Tropen lässt die Scheiben beschlagen. In bestem Oxford Englisch empfehlen die Dänen ihren englischen Kontrahenten, nach Hause zu ihren "hässlichen Frauen" zu gehen. Foppen unter Fans, die Gesänge schaukeln sich hoch, doch alles bleibt friedlich. Smalltalk mit den Schlachtenbummlern ist unmöglich, es ist zu laut.

Um 15.40 Uhr komme ich an der Sicherheitskontrolle vor dem Stadion an. Journalisten werden weitaus akribischer durchleuchtet als die normalen Stadionbesucher. Es gibt Körper- und Taschenscanner wie am Flughafen. Jacke, Laptop, Kleingeld, Uhr, alles muss in eine Kunststoffkiste gelegt werden. Ich werde verdächtigt, eine Taschenlampe reinschmuggeln zu wollen. Der Rucksack wird noch einmal extra durchsucht. Erleichtert stellt das Sicherheitspersonal fest, dass es sich nur um einen Knirps-Regenschirm handelt.

Schwätzchen unter Kollegen

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Eine Pommes und Wurst für 10,50 Euro später treffe ich meinen kicker-Kollegen und England-Experten Thomas Böker. Nach einem kleinen Schwätzchen im Presseraum nutze ich die Zeit bis zum Anpfiff auf der Pressetribüne, um an dieser Kolumne zu schreiben. Mein Kollege Moritz Kreilinger hat die entspannteste Anreise - per Fahrrad einfach von einem Stadtteil in den nächsten.

Während ich auf den Anstoß warte, erscheint bei kicker online ein Beitrag aus den Video-Schnipseln, die ich vom Römer und der Bahnfahrt in die Zentrale gesendet habe. Als fünf Minuten vor dem Anpfiff die englische Nationalhymne "God Save the King" gesungen wird, bekomme ich sofort wieder eine Gänsehaut - wie vor 18 Jahren.

Spielnote: mangelhaft

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Während des Spiels besteht indes keine Gänsehaut-Gefahr. Die englischen Fans scheinen wie ihre Mannschaft auf dem Platz über weite Strecken beinahe einzuschlafen, Dänemark gibt auf den Rängen den Ton an. Das Spiel plätschert - bis auf die Tore - ohne große Highlights vor sich hin. Auf meinem Notizblock häufen sich hinter den Spielernamen die Minus-Striche für die einfachen Fehlpässe. Um 19.52 Uhr ist das Elend  (1:1) vorbei, zu dritt einigen wir uns einstimmig auf die Spielnote 5, mangelhaft.

Danach geht es mit dem Gedränge weiter - in der Mixed Zone, wo sich die Profis den Fragen der zahlreichen internationalen Reporter stellen. Um 21 Uhr verlasse ich das Stadion, eine Stunde später komme ich im Kneipenviertel Sachsenhausen an. Endlich Feierabend. Auf einer Parkbank schreibe ich die letzten Zeilen. Freunde, die ebenfalls im Stadion waren, warten in einer Kneipe schon mit meinem Feierabendbier. Nix wie hin.

Julian Franzke

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  • In unserer EM-Kolumne berichten die kicker-Reporter von ihren Erlebnissen im Stadion, über Buntes und Kurioses aus den Gastgeberstädten und über die Stimmung in Deutschland während der Heim-EM.