Bundesliga (D)

Der Fall Eigendorf: "Was ist wirklich passiert?"

40 Jahre nach dem tödlichen Unfall

Der Fall Eigendorf: "Was ist wirklich passiert?"

Nachdenkliche Miene: Lutz Eigendorf befürchtete, dass die Stasi hinter ihm her sein würde.

Nachdenkliche Miene: Lutz Eigendorf befürchtete, dass die Stasi hinter ihm her sein würde. imago sportfotodienst

Es ist nur eine Zeitreise. Und doch merkt Hans-Heinrich Pahl, dass er sich urplötzlich die gleiche Frage stellt wie damals, vor 40 Jahren. Immer wieder wiederholt der 63-Jährige: "Was ist wirklich passiert?" Um diese vier Worte drehte sich alles an jenem 6. März 1983 in den Katakomben des Eintracht-Stadions. Tags zuvor hatten die Braunschweiger ihr Heimspiel des 23. Bundesliga-Spieltages gegen Bochum mit 0:2 verloren, beim sonntäglichen Auslaufen fehlte einer. Und kam nie wieder: Lutz Eigendorf.

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Im Jahr 2000 hat der Journalist Heribert Schwan mithilfe von Stasi-Unterlagen aus der Gauck-Behörde das Werk "Tod dem Verräter" fertiggestellt und rekonstruiert die Antwort auf die große Frage. Eigendorf galt als "Beckenbauer des Ostens", war DDR-Nationalspieler, Aushängeschild beim Berliner FC Dynamo. Als er mit seinem Klub 1979 zu einem Freundschaftsspiel nach Kaiserslautern reist, nutzt er im Alter von 22 Jahren den Tag nach dem Spiel und einen Einkaufsstopp in Gießen zur Flucht, fährt mit dem Taxi zurück nach Kaiserslautern.

Der Spitzel "wechselt" mit nach Braunschweig

Seine Eltern und Ehefrau Gabriele hat er nicht eingeweiht, will sie und die Tochter mithilfe von Fluchthelfern nachholen - doch seine Familie ist fest in den Fängen der Staatssicherheit. Und er selbst auch, ohne es wirklich zu wissen. In "Tod dem Verräter" wird detailliert dokumentiert, wie die Stasi einen Spitzel und "Liebhaber" auf Gabriele Eigendorf ansetzt, damit sie die Scheidung einreicht; wie der Kontakt unterbunden und der Profi in Kaiserslautern von einem Inoffiziellen Mitarbeiter bespitzelt wird. Dieser hat sich das Vertrauen Eigendorfs erschlichen, "wechselt" 1982 auch mit nach Braunschweig, wo der DDR-Flüchtling fortan von insgesamt gleich drei Spitzeln auf Schritt und Tritt verfolgt wird.

Pahl hat sich die Dokumentation bis heute nicht angesehen. "Ich wollte das nicht alles wieder aufwühlen", sagt der frühere Verteidiger. "Mir ging das alles damals wahnsinnig nahe. Lutz und ich hatten fast gleich alte Töchter, seine war fünf Wochen alt, meine ein paar Wochen älter." Eigendorf hatte sich nach der gescheiterten Familienzusammenführung mit seiner zweiten Frau Josi ein neues Leben aufgebaut. "Er war ein ganz cooler Typ, der leben wollte", charakterisiert Pahl den damaligen Mitspieler. "Aber für ihn war es nicht so einfach, sich an das Leben im Westen anzupassen, er konnte sportlich nicht ganz an seine Zeit in der DDR anknüpfen, hatte Pech mit Verletzungen."

Er musste damit leben, nicht zu wissen, wie es seiner Familie ging.

Eigendorfs einstiger Mitspieler Hans-Heinrich Pahl

Pahl denkt nicht nur an den Fußballer. "Für den Menschen Lutz Eigendorf muss es unglaublich schwierig gewesen sein: Bei uns im Westen, auch in unserer Mannschaft, wollte natürlich jeder wissen, wie das alles war, sein Leben in der DDR, die Flucht. Aber er wollte genau das hinter sich lassen. Und er musste damit leben, nicht zu wissen, wie es seiner Familie in Ost-Berlin ging." Freunden hatte er anvertraut, dass er fürchte, von der Stasi entführt und zurückgeholt zu werden.

Aus Schwans Dokumentation geht Schlimmeres hervor: Der Minister für Staatssicherheit, Erich Mielke, soll Eigendorfs Liquidierung angeordnet haben. "Über sein altes Leben", sagt Pahl, "hat Lutz nicht viel gesprochen." Nicht viel gesprochen hat Eigendorf auch am Abend des 5. März. Gegen die Bochumer saß er 90 Minuten auf der Bank, die Stammkneipe der Spieler "Zum gemütlichen Conni" verließ er nach zwei Bieren. Nachdem er kurz zu Hause war, hat sich Eigendorf noch mit seinem Fluglehrer in der Bar "Cockpit" getroffen. Mehr als zwei Bier, sagt der, habe er auch dort nicht getrunken - Eigendorf wollte fit sein für seinen Flug nach Westerland am nächsten Morgen.

Das Unfallauto von Lutz Eigendorf

Das Unfallauto: Aus diesem Wrack schaffte es Eigendorf vor inzwischen 40 Jahren nicht mehr lebend heraus. imago/Rust

Sie verabschieden sich um 21 Uhr, rund zwei Stunden später rast der Eintracht-Profi auf der Forststraße im Stadtteil Querum mit seinem Alfa Romeo gegen einen Baum - mit 2,2 Promille Alkohol im Blut. Wie er auf diesen Wert kam, ist bis heute nicht erwiesen. In der Gauck-Behörde sind Dokumente aufgetaucht, in denen beim Namen Eigendorf die Begriffe "Gifte" und "Gase" sowie "Verblitzen" stehen. Wurde er in den zwei Stunden zwischen dem Abschied von seinem Lehrer und dem Unfall mit Alkohol abgefüllt und vergiftet und ist dann unter Todesangst die Landstraße entlanggerast, wo er in der Kurve gezielt geblendet wurde?

"Was ist wirklich passiert? Wir wissen es nicht", sagt Pahl. Als Eigendorf am Sonntagmorgen beim Auslaufen fehlt, ahnen die Eintracht-Profis noch nichts. "Aber dann wurde unser Trainer Uli Maslo während der Einheit vom Platz gerufen, nach und nach sickerten Gerüchte durch." Nach dem Training in der Kabine gibt es Gewissheit: Eigendorf ist verunglückt. Am 7. März erliegt er im Alter von 26 Jahren seinen Verletzungen.

Mordgerüchte gab es sofort

"Es war totenstill in der Kabine", sagt Pahl, "die ganze Woche. Die Gerüchte, dass Lutz ermordet wurde, gab es sofort. Aber wir wussten es nicht. Wir haben uns immer wieder gefragt: Was ist passiert?" Pahl stellte sich eine weitere Frage: die nach Eigendorfs Familie, mit der fast gleichaltrigen Tochter: "Was wird aus ihnen?"

Die Eintracht stürzt nach der Tragödie ab. In den Wochen danach gibt es acht sieglose Spiele, Trainer Maslo muss gehen, und erst am 21. Mai, fast drei Monate nach Eigendorfs Tod, gelingt der erste und letztlich einzige Sieg, der den Bundesligaverbleib rettet. "Wir standen unter Schock", sagt Pahl, "mit Profisport hatte das alles nichts mehr zu tun." Und es wühlt ihn auch 40 Jahre später noch auf.

Dieser Text erschien in der aktuellen kicker-Montagsausgabe (hier auch als eMagazine)

Sebastian Wolff

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