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Das erste Spiel der gesamtdeutschen Nationalelf: Die große Freiheit

Deutlicher Sieg gegen die Schweiz

Das erste Spiel der gesamtdeutschen Nationalelf: Die große Freiheit

Erstes Spiel als gesamtdeutsches Team: im Dezember 1990 gegen die Schweiz.

Erstes Spiel als gesamtdeutsches Team: im Dezember 1990 gegen die Schweiz. imago images

Berti Vogts hakt sich mit dem linken Arm bei Andreas Thom unter und redet an der Seitenlinie auf ihn ein. "Da isser", ruft Live-Kommentator Heribert Faßbender in der ARD und meint Thom. "25 Jahre alt, 51 Länderspiele hat er für die DDR bestritten." Und jetzt das erste für die Bundesrepublik. Thom steht bereit, bitterkalt ist's im Stuttgarter Neckarstadion an diesem Abend des 19. Dezember 1990, aber ihm ist ganz warm und der soeben vereinigten Fußball-Nation auch. Matthias Sammer, der Neu-Stuttgarter, verlässt den Rasen. Er hat nicht schlecht gespielt, aber auch nicht richtig gut. Er ist der erste Spieler aus der gerade untergegangenen DDR, der für die DFB-Auswahl aufläuft. Und Thom, dem Sammer beim Abgang die Hand gibt, ist der zweite. Was Vogts ihm bei der Einwechslung in der 74. Minute mit auf den Weg gegeben hat? "Weeß ick nich mehr", sagt Thom und schiebt ein Grinsen hinterher. "Aber muss wat Jutet jewesen sein."

Muss es wohl. "Vielleicht der antrittsschnellste Spieler in der Bundesliga", sagt Faßbender noch. Schnell ist Thom tatsächlich - und an dem Abend ist er verdammt schnell da. Noch trockener als Thoms Pointen sind seine Schüsse. Der in Stuttgart zum Beispiel. Ecke Jürgen Klinsmann, Ablage Thomas Häßler. Thom lupft den Ball mit links leicht an, um einen Schweizer Gegenspieler mattzusetzen, und zieht mit rechts ab: Aufsetzer, Innenpfosten, Tor, 3:0. Sein erster Ballkontakt wird zum Moment für die Ewigkeit. Häßler ist der erste Gratulant, Stefan Reuter der zweite, und Faßbender ruft juchzend in die Wohnstuben zwischen Kiel und Berchtesgaden und auch in die zwischen Greifswald und Görlitz: "Das ist natürlich ein Super-Start. Das nennt man Glück beim Einwechseln."

Blitzschnelle Böller von Thom und Völler.

Der kicker nach dem Länderspiel

Es ist ein in vielerlei Hinsicht bemerkenswerter Abend in Stuttgart. Rudi Völler vollendet nach 28 Sekunden zum 1:0, Karl-Heinz Riedle und Lothar Matthäus umrahmen mit ihren Treffern Thoms geschichtsträchtiges Tor, und der kicker reimt launig: "Blitzschnelle Böller von Thom und Völler." Uli Stielike, der deutsche Trainer der Schweiz, muss mit ansehen, wie seine Mannschaft um Stephane Chapuisat, Alain Sutter und Marcel Koller gute Chancen auslässt und ihr zusehends die Kräfte schwinden.

Vogts spricht von einem "Willkommensspiel"

Der Gegner, den sich der DFB für diesen Abend ausgesucht hat, ist nicht zufällig gewählt. Das erste Länderspiel trägt der DFB 1908 gegen die Schweiz aus, das erste Spiel nach dem Zweiten Weltkrieg, als Deutschland sportpolitisch zunächst weltweit geächtet ist, ebenfalls (1950). "Das Spiel 1990 gegen die Schweiz war ein Willkommensspiel", sagt Vogts, der im Sommer 1990 das Erbe des Weltmeister-Trainers Franz Beckenbauer angetreten hat. "Wir waren froh, wieder vereinigt zu sein. Und wir haben gesagt: Lasst uns doch wieder gegen die Schweiz spielen."

Der "gesamtdeutsche" Jubel nach einem Tor. imago images

Erstmals seit 1942 tritt eine gesamtdeutsche Mannschaft an, Bundestrainer Vogts nominiert fünf Spieler aus dem Osten: neben Sammer und Thom noch Ulf Kirsten, Thomas Doll und - als einzigen Spieler, der noch im Osten spielt - Jenas Torhüter Perry Bräutigam. Kirsten, seit Sommer 1990 in Leverkusen unter Vertrag und dort Thoms Nebenmann, muss verletzt absagen. Doll, über Jahre Thoms kongenialer Sturmpartner beim DDR-Serienmeister BFC Dynamo und seit Sommer 1990 beim HSV auftrumpfend, und Bräutigam bleiben bis zum Schlusspfiff auf der Bank, dick eingepackt in Boots und Decken. "Ich hätte gern meinen Einstand gegeben, aber ich war nicht ansatzweise sauer", erzählt Doll. "Als ich in Hamburg damals losgeflogen bin, war ich unglaublich aufgeregt, schlimmer als vor einem Spiel. Diese Einladung zur gesamtdeutschen Nationalmannschaft war etwas ganz Besonderes."

Weil der Flieger von Hamburg nach Stuttgart überbucht ist, verspätet sich Doll: "Ich kam zum Mittagessen an, als die Jungs schon alle im Speisesaal saßen. Es war nur noch ein Platz frei: am Tisch von Lothar Matthäus und Rudi Völler." Der sonst so lockere Doll sagt: "Ich glaube, dass mein Blick anfangs nur auf den Teller gerichtet war. Ich bin ja ein ziemlich zugänglicher Typ, der auch mal einen Spruch macht, aber da blieb mir erst mal die Spucke weg."

"Eine Einheit": Matthäus erinnert an den WM-Titel

Die neue Umgebung, die Weltmeister als Mitspieler, einiges wird lockerer gehandhabt als zuvor in der DDR-Auswahl - die Neuankömmlinge spüren nach den politischen Umwälzungen auch sportlich die große Freiheit. "Die Jungs waren vermutlich überrascht, wie herzlich willkommen sie waren", sagt Lothar Matthäus, der in Stuttgart sein 85. Länderspiel bestreitet. "Das war auch schon bei der WM 1990 die Stärke unserer Mannschaft - wir waren eine Einheit." Die dazugestoßenen Spieler aus dem Osten machen auf den Kapitän einen ganz unterschiedlichen Eindruck, in den Gesprächen geht es um mehr als um Fußball: "Wir haben vor der Wende wenig mitbekommen, was auf der anderen Seite der Mauer passiert ist. Dann zu hören, wie das auf Reisen war, wie man bewacht wurde, warum man nicht einfach abhauen konnte und wie groß der Druck auf die Familien war - das war spannend. Thomas Doll war schon damals der Frechste. Am schüchternsten war Matthias Sammer. Ihm sah man an, dass er erst mal schauen wollte, wie alles abläuft."

Vogts treibt die Integration auch abseits des Platzes voran. Er steckt im Teamquartier in Degerloch Sammer ins Zimmer von Matthäus und Bräutigam zu Stammtorwart Bodo Illgner. "Ich hatte Familie im Osten Deutschlands, ich kannte die Verhältnisse", sagt Illgner. "Man hat immer gehofft, dass Deutschland mal wieder eins wird. Aber so richtig gerechnet hatte ich damit nicht, weil die Situation in der DDR doch sehr verhärtet und verkrustet war."

Andreas Thom

Andreas Thom lief 51-mal für die DDR- und zehnmal für die DFB-Auswahl auf. imago images

Illgners Zimmerkollege Bräutigam verspätet sich wie Doll unverschuldet bei der Anreise. Er nimmt die vorgegebene Reiseroute - von Jena via Leipzig und Frankfurt nach Stuttgart - und platzt ebenfalls erst zum Mittagessen rein. Pressechef Wolfgang Niersbach bringt ihn schnell aufs Zimmer, wo eine Tasche mit DFB-Klamotten bereitsteht. Mit Illgner philosophiert er am Abend über die Wende, und nach dem Schweiz-Spiel sitzt Bräutigam mit Sepp Maier zusammen, der in Jugendtagen sein Vorbild ist und jetzt sein Torwarttrainer. Es bleibt Bräutigams einzige Berufung.

Als er 1995 von Jena nach Rostock wechselt und in der Bundesliga ankommt, ist der Zug für ihn abgefahren. Für Sammer, der beim EM-Triumph 1996 zur prägenden Figur wird, fährt der Zug da erst richtig los. Vogts schätzt ihn, der Rotschopf aus Dresden fällt ihm früh bei deutsch-deutschen Nachwuchs-Länderspielen auf. Als die U-20-Auswahlteams der Bundesrepublik und der DDR 1987 von Amsterdam im selben Flieger zur WM nach Chile reisen, kontaktiert Vogts über den Masseur des DFB-Teams Sammer und spricht mit ihm auf der Flugzeug-Toilette.

Aber in den Tagen von Stuttgart und auch danach wirkt Sammer auf Vogts verschlossener als erwartet. "Die Spieler aus dem Osten haben sich schnell angepasst und integriert", sagt Vogts, "aber sie waren sehr überrascht, wie offen es bei uns zuging. Matthias Sammer kam irgendwann zu mir und sagte: Das kann doch gar nicht wahr sein, was sich hier abspielt. Ich habe ihm geantwortet: Warum sollen wir nur negativ sein?" Scherze hier, mal ein nicht-isotonisches Getränk da - Schwarz-Rot-Gold ist wegen der Kommunikationsfreudigkeit der Platzhirsche eben auch Schwatz-Rot-Gold. "Matthias lag mit mir auf einem Zimmer und hat sich gewundert, dass ich bis 1 Uhr telefoniert und Fernsehen geschaut und vor dem Einschlafen noch ein Bierchen getrunken habe", erzählt Matthäus. "Das war für ihn Neuland."

Schüchterner Sammer war nicht zu "knacken"

Matthäus sieht sich in den Tagen von Stuttgart nicht wegen des Kapitänsamtes in einer besonderen Pflicht, sondern ist von Haus aus integrativ. "Bei all meinen Stationen als Spieler und Trainer war ich auch auf Hilfe angewiesen und froh, wenn mir jemand den Einstieg leichter gemacht und mich an die Hand genommen hat. Und so gebe ich das weiter, weil ich weiß, wie es ist, wenn man als Neuling irgendwo hinkommt. Matthias war jedoch schwer an die Hand zu nehmen", sagt Matthäus schmunzelnd. "Er war so schüchtern. Den hab' damals nicht mal ich knacken können."

Matthias Sammer

Matthias Sammer wurde später Europameister mit Deutschland. imago images

Auch Vogts braucht dafür länger. Erst 1993, am Rande des US-Cups ein Jahr vor der WM, bricht das Eis bei einem längeren Strandspaziergang in Miami. Es ist die Grundsteinlegung für den EM-Sieg von 1996, bei dem Sammer als Vogts' verlängerter Arm agiert. Die anderen Ost-Spieler tun sich eher schwer unter Vogts. Womöglich spielt in diese nicht immer einfache Beziehung eine Anekdote rein, die der diplomierte Sturkopf aus Korschenbroich bis heute nicht vergessen hat. "Die Forderungen der DDR-Verbandsfunktionäre vor dem Länderspiel gegen die Schweiz waren unglaublich", sagt er. "Sie wollten, dass ich in der Zukunft vier bis fünf DDR-Spieler einsetzen muss. Ich habe gefragt: Sie wissen, dass die deutsche Nationalmannschaft Weltmeister ist? Gott sei Dank hatte ich in Hermann Neuberger einen starken DFB-Präsidenten hinter mir. Er sagte zu mir: Herr Vogts, Sie kennen doch Ihren Vertrag. Sie bestimmen allein, wer spielt - Ende."

Thom, der fußballerisch Hochbegabte, wird 1992 Vize-Europameister, aber spielt nur zehnmal für Gesamt-Deutschland. Nach dem Tor von Stuttgart trifft er nur ein weiteres Mal für die Vogts-Elf, im Dezember 1993 gegen die USA. Doll debütiert im März 1991 gegen die Sowjetunion für den DFB und bestreitet 18 Länderspiele, sein letztes im März 1993 mit 26 Jahren. Tragende Rollen gewährt Vogts beiden nicht.

"Wir haben die Erinnerungen aufgefrischt"

Hängen geblieben ist nichts. Als sich die 90er Weltmeister im Oktober 2020 auf Initiative von Matthäus drei Tage in der Toskana treffen, sind Thom, Doll, Kirsten und Bräutigam dabei, ebenso die DDR-Altinternationalen Dixie Dörner, Eberhard Vogel und Jürgen Sparwasser, Vogts ist wie andere 74er Weltmeister wie Beckenbauer, Maier und Rainer Bonhof auch da. "Wir haben aus unserer WM-1990-Feier eine Das-Jahr-1990-Feier gemacht", sagt Matthäus. Sie feiern in diesem sonst sehr bleiernen Jahr den Titel und die Einheit und das Leben. "Wir haben die Erinnerungen aufgefrischt", sagt Doll, der wie Matthäus in Budapest lebt und mit seinem Kumpel Thom fast jeden Tag telefoniert. "Wenn ich an unser Treffen in der Toskana denke", sagt Thom, "kriege ich Gänsehaut. Wir gehören seit 1990 dazu, und das ist schön."

Andreas Hunzinger, Steffen Rohr

Diese Spieler standen sowohl beim DFB als auch beim DFV auf dem Platz